Rezensionen

Rezensionen Ingritt Sachse: "mir mein leben / meine farben ermischen"

Der Reiher und die Feuerlilien Rolf Birkholz (AM ERKER, Dezember 2018)

Wolken, Wind und Mond tauchen signifikant häufig auf in diesen Gedichten. Wind ist zu spüren, Mond und Wolken sind zu sehen, zu fassen sind sie alle nicht recht. Der Mann im Mond bekommt ja äußerst selten Besuch. So "festgefroren hinter der haut aus eis ich / versuche die wolken zu trösten was / haben sie alles gesehen", beginnt "tagtätlich". Ingritt Sachses Gedichtband mir mein leben / meine farben ermischen fordert schon durch oft überraschenden Buchstabenaustausch oder Zeilensprung, besonders aufmerksam zu lesen. Die zitierten Verse geben eine Grundstimmung vor, dieses facettenreiche lyrische Ich verlangt unter erschwerten Bedingungen nach Gehör. Und obwohl jene drei Begriffe auf Flüchtiges oder weit Entferntes weisen und trotz des Untertitels gedichte für eine andere welt wird erkennbar, dass diese konzentrierte Seelenpoesie sich in einer durchaus mit Tagtäglichem kommunizierenden Innenwelt bewegt.  Wenn es einmal heißt "geflogen komm ich wolkenweiß bin / eine maulwurfmöwe", steht dieses Wundertier für zu überbrückende Gegensätze und Verwandlungswünsche, die auch an anderen Stellen begegnen. Das spannt an, entspannt aber auch. Etwa, wenn das Subjekt in feinen Wellenlinien zu lesen versucht: "ich träume mich in sie hinein / bin / aufgehoben / in einem wassertropfen". Und im nächsten Gedicht ist es zunächst "aus allen träumen gefallen / in einen morgen wie wasser", zieht dann in ein Seeschneckenhaus, und "ohne die absicht den mond zu erreichen / bade ich / unter dem mond".Es sind "gedanken unter dünner haut wie / schaum die brandung offenbart", die Ingritt Sachse, geboren 1946, in diesem Band versammelt. Dabei mögen auch berufliche Erfahrungen der Psychotherapeutin eingeflossen sein. Manche Gedichte sind durch Gemälde von Paul Klee, Cy Twombly oder Frank Auerbach angeregt. Bei Letzterem werden ganz im Tenor dieser Lyrik "gesichter geschützt unter / bandagen zusammen gesetzt / von farbwickeln gehalten". In "spiegelungen", vielleicht das Schlüsselgedicht dieses Buchs, aber klärt sich plötzlich die Lage. Während Lilien im Morgenlicht, wie es scheint, Feuer gefangen haben und sich im Teich spiegeln, sitzt "bewegungslos ein reiher / wartet und lässt sich nicht / täuschen hat feuer gefangen / die feuerlilien im teich waren / goldene fische". Hier begegnen einander mustergültig menschliches Vermögen und tierisches Streben. Dieses bei Wind und Wolken so zu sehen, könnte schon die halbe Fahrt zum Mond sein.

Ingritt Sachse: mir mein leben / meine farben ermischen. gedichte für eine andere welt. 136 Seiten. Athena. Oberhausen 2018. € 14,90.

"Die Kröte Schild"

Rezension von Detlef Rüsch am 12. August 2017

Ungewöhnlich wie der Titel sind auch die Gedichte und Zeichnungen in diesem Buch, das keinen gewöhnlichen Weg der Vermittlung geht. Vielmehr werden hier Sprachespiele und Bilder für die Kinderpsychotherapie so vorgestellt, dass man einen weiten Raum hat in der Anwendung. Das Kinder(fach)buch mit Sprachspielen, Phantasiegeschichten und angedeuteten Bildern eröffnet die Chance, selbst kreativ zu sein und je nach Hintergrund eines Kindes oder eines/einer Jugendlichen kann hier individuell auf die unterschiedlichen Aspekte der kindlichen Welterfahrung eingegangen werden. Manchmal reimen sich die Verse, mal wird ein hintergründiger Sprachwitz eingesetzt und mal ist es eher eine Geschichte, die selbst sehr inspirierend ist. Ohne direkte Bewertung können hier einzelne Wörter bildhaft zerlegt und neu kombiniert bzw. umgedeutet werden.

Sowohl in der psychotherapeutischen, als auch in der pädagogischen Arbeit mit Kindern lassen sich - bewusst ausgewählte Gedichte oder Bilder einsetzen. Beispielhaft sei hier das Magengedicht zitiert: "in meinem Bauch da/ murrt was und/ da knurrt was// in meinem Baucht brüllt einer:/lauter Hunger hab ich auch!// so geht es zu/ da ist was los/in meinem Bauch"
Passend dazu wird ein Kind mit verkrampfter Körperhaltung gezeigt. So kann man das Gedicht einsetzen mit dem Hintergrund, was dem Kind wohl schon Bauchschmerzen bereitet hat oder ob es den Gesichtsausdruck des Kindes kennt.

"Die Kröte Schild"

Rezension von Jochen Willerscheidt in PPFI, Dezember 2016

Jeweils auf einer Doppelseite präsentiert die Autorin Lebensphänomene aus der Welt eines Kindes. Die linke Seite gestaltet sie in der verbal-symbolischen Domäne der Sprache und auf der entsprechenden rechten Seite drückt die Illustratorin das Thema auf der präsymbolischen Ebene des Bildes aus. Man kann soweit gehen, dass hierin auch ausgedrückt wird, dass Informationen aus der Umwelt links- und rechtshemisphärisch unterschiedlich im Gehirn verarbeitet werden, worauf der amerikanische Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Allan Schore recht ausführlich in seinem Werk hinweist. Beim Vorlesen bzw. Selberlesen und Ausmalen des Bildentwurfes kann eine Verknüpfung dieser beiden Ebene gelingen. So unterstützen Ingritt Sachse und Annette Gundlach mit der formalen Anordnung von Text und Bild die entwicklungspsychologisch bedeutsame Formgebung manchmal auch ambivalent erlebter Gefühle des Kindes.Auf diesem Weg lernt das Kind lustvoll auf implizitem Weg beide Symbolisierungsformen zu verknüpfen. Für Kinder, die in die verbale Welt eintauchen, sollte der Wortfindungsprozess wie ein Spiel sein. Sicher gebundene Kinder lieben diese schmunzelige Form des "Probehandelns". Werden diese Wortspiele, wie sie die Autorin immer auf der linken Seite Ihres Buches anbietet, mit einer förderlichen Resonanz seitens der Umwelt bedacht, dann wird die Entdeckung der Sprache zunehmend von einem Selbstwirksamkeitserleben für das Kind begleitet sein. Im kindertherapeutischen Prozess kann das gemeinsame "Weiterspinnen" dieser Gedichte zu einem freudigen Miteinander führen. Das gemeinsame Fabulieren setzt das Wortspiel auf die gleiche Ebene wie das therapeutisch so wertvolle symbolische Spielen in der Kindertherapie.

Rezension des Gedichtbandes "vergessene landstriche die wir begehen" von Rolf Birkholz, in der online-Ausgabe der Zeitschrift für Literatur "Am Erker", Nr. 65, 2013.

Traum, Blume, Atem, Haut und Herz

Rolf Birkholz

Von „mitten im herz im november“ bis „blumen aus deinen kleidern wachsen“ im Februar, wenn „die sonne/ tut als wäre/ märz“, führen die Kapitelüberschriften. „ohne wärmendes feuer leben“, „träumen von un/berührter landschaft“, „und schüttelt den schnee aus dem fell die bärin“ heißen die Abschnitte dazwischen in Ingritt Sachses Gedichtbuch "vergessene landstriche die wir begehen". Stark von Naturbildern, von Bäumen, Blumen, Schnee sind die Gedichte der in Bonn lebenden Autorin geprägt. Nicht minder kräftig aber auch von Traum und Gefühl, von Selbstvergewisserung („gehen bis// an die grenze/ an der ich mir fremd“) und Zweisamkeit, von Begriffen wie Atem, Haut und Herz. In dem von einem Text Sarah Kirschs angeregten Gedicht „cento“ finden sich die wichtigsten Aspekte der Dichtung Ingritt Sachses zusammengeführt..

Hier geht es „ins grundlose oder/ welcher grund/ die gegenwart blüht ver:/ blüht so schnell und/ immer warten am/ küchentisch die zeitung zer:/ blättert angestrengt nach träumen/ suchen, da legt sich/ deine hand/ auf meine schulter/ wärmt durch die wolle/ bleib./ deine worte/ duften nach landwegen/ nach moor und /“. Der reichlich oft gesetzte Doppelpunkt, der durch Trennung auf Mehrdeutigkeiten hinweisen soll, kann allerdings leicht zur Marotte werden, wenn etwa bei Lidern auch Lieder („li:e:dern“) erklingen sollen oder gar, wenn „shoppen schnappen beute:lvolle/ tüten“ heißt: Da reißen nicht nur Beutel. Sonst aber achtet die Autorin, deren poetische Wahrnehmung durch Interesse und Empathie befördert scheint, auf einen unauffälligen Zusammenhalt ihrer freien, aber miteinander verzahnten Verse. Und da es gar nicht genug Gedichte übers Verliebtsein geben kann: „im/ eisfeld stehn/ zwei kro/ küsst sich das paar/ leuchtet lila/ gelborange/ schmilzt schnee/ füße/ im gras“.

Rezension des Gedichtbandes "in schattengängen streut licht" von Rolf Birkholz, in der online-Ausgabe der Zeitschrift für Literatur "Am Erker".

Rezensionen Ingritt Sachse: in schattengängen streut licht

Grund aus Liedern und Geschichten

Rolf Birkholz

Zu Beginn "greift meine kinderhand / in einen grund aus / liedern und geschichten // fallen federn schwarz und / bunt mein neues kleid / mein tanz". Dieser Anfang gibt den Ton an in Ingritt Sachses Gedichtband in schattengängen streut licht. Auch die Erwachsenenschreibhand - oder ist sie dann auch Kinderhand? - arbeitet mit dem Material der Jahre und des Tages.

Das kann eine Variation des Märchens vom Froschkönig sein oder eine heitere, assoziative Lautkette: Von Rosen und Rosinen "geht es mit der alten / rosinante zu der / allerliebsten tante" bis zu Rosenmund und Rosenkohl. Aber so unbeschwert wie etwa auch in dem weiblich-listigen "du brauchst mir keine / stöckelschuh / zu schenken" gibt sich die lyrische Person nicht immer, und wo das Leben wie am Schnürchen läuft, "ver- / strick ich mich in / vor / zurück / zerreiß den strick"

In ihren Gedichten tastet sich die in Bonn lebende Autorin, geboren 1946, durch Gedanken- und Gefühlswelten, in klangbewussten, gelegentlich überbebilderten Kurzversen, die für eine durch "brandsätze der träumer" beleuchtete Anderswelt stehen mögen.

Mit dem Anfang korrespondiert gegen Ende des Buchs ein Gedicht zu Christian Boltanskis Installation "Vanitas": "tanz auf der geister: / blassen wandhaut schatten: / tanz / bemessen / in der höhle taktet / zeit / sekundengrab ver: / schwinden und ver: gehen / mensch: sein / tanz: sein / schatten"

Besprechung des Lyrikbandes "in schattengängen streut licht" in: eXperimenta im April 2011:

Von Melanie Wirtz

1

Wenn Feuerfeen in Stöckelschuhen auf Lavendeltreppen laufen Der Gedichtband „in schattengängen streut licht“ von Ingritt Sachse Es gibt wohl kaum eine literarische Form, die Lesermeinungen so polarisieren kann wie Lyrik. Während man in Prosatexten, auch wenn man vom Text nicht überzeugt ist, oft noch den einen oder anderen Handlungsstrang, die geschaffene Atmosphäre oder den Stil insgesamt für gut befinden kann, bietet Lyrik diese Alternativen kaum. Es ist eine besondere Kunst, Bilder in wenigen prägnanten Worten zu erschaffen. Gleich ganze Welten von Mythen und Träumen kreiert Ingritt Sachse in ihrem gerade erschienenen Lyrikband in schattengängen streut licht. Zu Beginn des Buches reihen sich Gedichte aneinander, die die Surrealität von Träumen in Worte fassen.

„tagdunkler schlaf
traumwildes
gefieder sträubt sich
der vogel die fellrote
katze federn wirbeln
flügel und fell ins
dunkel stürzen ins
licht
traumschlaf: ich und
meine geflügelte katze“

Dem Traumschlaf folgen eine Frau im Echsenhemd, Schattengänge und Lavendel- treppen und immer wieder werden magische Bilder geschaffen, die zwischen Traum und Realität schweben. Dem eher rational veranlagten Leser wird einiges abverlangt, wenn er der Autorin in diese Welten folgen will:

„lavendeltreppen
steigen leicht in
lichte bläue
ziehen langen weiten
bogenstrich ferner
klänge blauer leiter
und gesänge aus dem äther schläft
dornröschens weiße schuld und
blaue (nette) zellen für
das wilde blut
das ochsenblut-
haus lehnt sich
an lavendel“

2

Die Faszination für solch magische und traumhafte Welten hängt wohl mit Ingritt Sachses Arbeit als Psychotherapeutin zusammen. Ihr ist also schon vom Berufsweg her das Unbewusste nicht fremd. Dichterische Vorbilder findet Ingritt Sachse in Sarah Kirsch und Rose Ausländer. Das wird insbesondere in dem Gedicht cento (kirschro- sen) deutlich, das explizit aus Textpartikeln beider Autorinnen besteht. Die Kunst der Autorin liegt in der Kreation stimmiger Bilder und ihrem geradezu liebevollen Umgang mit der Sprache. Zu den Stärken des Gedichtbandes gehört aber insbesondere die gelungene Übertragung von Märchen und Mythen in den All- tag. Und dieser Alltag ist oft nicht märchenhaft, sondern ziemlich profan:

„und war
noch immer des goldes
nicht satt der
prinz der gemahl und sie
des bleibens nicht sicher. dann
kurzer hand
warf sie den
prinz an die wand. kein frosch
der sich fand (verwandlung ihm
anzubieten) und
bleibt ein geworfener
prinz
an der wand“

Während im Märchen der Frosch zum Prinzen wird und damit für die ewige Hoff- nung der Frauen auf die große Liebe steht, bleibt im realen Alltag der Prinz immer nur das, was er ist.
In ihren gelungensten Gedichten verknüpft Ingritt Sachse diese Bilder, eine atmo- sphärische Sprache und das Ankommen in der Realität miteinander:

„treibt wie der krumme mond
im hellen holz der fichte
mein leben gemaserte
zeit
begleiten wir uns
ich und mein leben mal
treibt der eine mal
reibt sich der mond auf dem

holzweg aber bleibt doch
mein leben“

3

Ganz anders zeigen sich dagegen einige Gedichte, in denen Ingritt Sachse nahezu ganz die Welt der Bilder und Träume verlässt. Diese Gedichte sind dann nett zu lesen, zum Teil humorvoll, aber auch weniger subtil:

„du brauchst mir keine
stöckelschuh
zu schenken. Ich
würde mir doch nur
den fuß
verrenken oder
mit schweren beinen übers
pflaster schaukeln der absatz
würde sich in ritzen
bohren ich
will die dinger nicht sie sind

an mir verloren     ach so
du sagst von gucci und
aus schlangenhaut gemacht
na ja
vielleicht
könnt ich die dinger schleppen und
meine beine etwas
peppen will mir die
stöckelsünde
nicht versagen und zieh
sie an mein schatz du
darfst mich tragen“

4

Wie gesagt: Nichts polarisiert so stark die Lesermeinungen wie Lyrik. Ein großes Plus von Ingritt Sachse ist, dass ihre Gedichte vielfältig sind. Denjenigen, die moderne Lyrik mögen und eine Autorin kennenlernen wollen, die ein breites Spektrum an Bildern, Stimmungen und Gedankenwelten entstehen lassen kann, seien die Gedichte sehr empfohlen. Es bleibt zu wünschen, dass in Zukunft noch mehr von einer Autorin zu lesen sein wird, die die Fallstricke des Lebens kennt und diese gekonnt in Worte fasst:

„mein leben wie am
schnürchen schnurrt es kurz und
zerrt an leine seil strick ver-
strick ich mich in
vor
zurück
zerreiß den strick
zerbeiß den stock und wieder
bind ich‘s an den pflock
mein leben
wie am schnürchen (geht
am stock)“

Melanie Wirtz, eXperimenta

Besprechung im General-Anzeiger Bonn vom 24.3.2011:

"In Schattengängen streut Licht"

Muffendorferin hat einen Gedichtband veröffentlicht

BAD GODESBERG. 73 Gedichte enthält die kürzlich im Athena Verlag erschienene Erstveröffentlichung der in Muffendorf lebenden Lyrikerin Ingritt Sachse.

Auf den 85 Seiten finden Echsenfrauen ebenso ihren Platz wie in die Tiefe führende Muschelgänge, der Schneemond ebenso wie das "Schilfgeflüster". In ihren Gedichten lässt Ingritt Sachse vergessene Welten lebendig werden. Sie erinnern an Mythen, Träume, Wünsche und an vergangene Kindertage.

"In Schattengängen streut Licht", so lautet der Titel des gänzlich ohne Großbuchstaben auskommenden Lyrikbandes, den die Psychotherapeutin am Freitag, 8. April, bei einer Lesung in der Bad Godesberger Parkbuchhandlung dem Publikum persönlich vorstellen möchte.

Muscheln, Vögel, Höhlen, Tau - die Natur spielt in den Gedichten durchgehend eine tragende Rolle und bildet somit gleichsam das Bindeglied zwischen den geschilderten Fantasie- und Traumwelten auf der einen und die alltagslyrischen Texte auf der anderen Seite. Denn auch dort sind es Wolken und der Sommer, welche die impressionistischen Fixpunkte der Verse bilden.

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Besprechung im Weserkurier vom 8.3.2011:

Mit "in schattengängen streut licht" legt Psychotherapeutin Ingritt Sachse ihren ersten Gedichtband vor

Muschelhorn mit weichem Gesang

Von Albrecht-Joachim Bahr

Vegesack. Ingritt Sachse ist Psychotherapeutin. Sie hat dieser Tage ihren Gedichtband "in schattengängen streut licht" vorgelegt. Lyrik aus der Feder einer Seelenklempnerin? Wie viel Freud erwartet uns da? Wie viel Couch (obwohl sie ihre Klienten bittet, in einem Sessel Platz zu nehmen)? Und kommen Bewegung, Tanz und Bilder zu Worte, die Elemente, die in ihre Arbeit einfließen? Eine Annäherung an einen "grund aus liedern und geschichten".

Es beginnt - genauer: das zweite Gedicht der Sammlung beginnt mit: ein kalter rosenhimmel dieser morgen. Alles klar, sagen wir, klingt nach Homer, der seinem Odysseus zu fast jedem neuen Tag die rosenfingrige Göttin der Morgenröte beschert. Aber der rosenhimmel wandelt sich. Hier die Metamorphosen: rosinen, rosinante, tante, stock und rosenstock, schließlich rosenmund und rosen kohl. Einige Gedichte später wandelt sich der absatz über dachsatz zu dach. Wir werden an einen assoziativen Ansatz erinnert ("Was denken Sie, wenn Sie ... hören?")

"Ich kann gar nicht so viel darin sehen", sagt Ingritt Sachse, und ist erstaunt, was anderen dazu einfällt. Und es fällt einem viel ein, wenn man sich mit ihrer Wortwelt einlässt. Da sind die Träume, da sind Ängste, der Tod, der Tanz bei Anprobe just auf einer Shoppingtour gekaufter Klamotten (maitango), da sind Meer und Muscheln, Ochsenblut und Lavendel. Da gibt es den Flug zu den Wolken. Und wenn wir aneinander uns verjüngen und täglich dabei älter werden wir wie helle kiesel kichern dunkle steine reiben bis sie glänzen, klopft auch die Erotik an. Schließlich ist dann da noch die Sehnsucht nach Freiheit und der Drang, trotzdem wieder zurück in die Spur zu kommen:

mein leben wie am schnürchen schnurrt es kurz und zerrt an leine seil strick verstrick ich mich in vor zurück zerreiß den strick zerbeiß den stock und wieder bind ichs an den pflock mein leben wie am schnürchen (geht am stock)

Ingritt Sachse wird 1946 in Bremen geboren. In Burg wächst sie auf, zieht später nach Schönebeck. Nach dem Realschulabschluss schlägt sie den Berufsweg Kindergärtnerin ein, studiert in Bremen Sozialpädagogik und arbeitet schließlich bis 1980 im Schulkindergarten in Lesum. Dann aber hat sie die Chance, "das kleine Bremen zu verlassen": Sie geht - "der Liebe wegen, jedenfalls für's Erste" - nach Berlin. Dort arbeitet sie an einer Gesamtschule. Aber Ingritt Sachse will mehr: Nebenbei studiert sie Psychologie an der Freien Universität und macht 1991 ihr Examen.

Nebenbei schon beginnt sie eine Ausbildung als Psychotherapeutin, die sie 1998 abschließt und von der Kassenärztlichen Vereinigung als praktizierende Ärztin zugelassen wird. 1998 wieder ein geografischer Schnitt.

Offensichtlich war das Problem mit Bremen, dass es nicht zu klein war - es war nicht klein genug: Es zieht sie nach Bonn - "der zweiten Liebe hinterher". Ihr Lebenspartner jetzt ist ebenfalls Psychotherapeut. Aber: "Jeder hat seine eigene Praxis." Und Ingritt Sachse arbeitet unter anderem mit Bewegung, Tanz und Bildern. Beruflich war's ein langer Weg, aber, sagt sie, das Ziel jetzt habe sie schon als Kindergärtnerin angepeilt.
Auch Gedichte schreibt sie "schon immer - irgendwie". Zuerst aber sind es Kindergeschichten gewesen, die während ihrer Arbeit im Kindergarten in Lesum "aus der Not entstanden sind". Aus Geschichten für die Kinder dort wurden später dann Geschichten für ihre Neffen. Zeitweilig sehr eigenwillige biografische Texte und Beobachtungen. Sie lässt viel aus ihrer Arbeit mit einfließen. "Dann wurden die Texte immer kürzer, wurden eher zu Gedichten." Und die ersten schreibt sie dann, vor gut 14 Jahren, "in Bonn", sagt sie heute und betont: "Bonn, das ist inzwischen so stimmig." Und wir denken: Den Strick, der sie einst an Bremen gebunden hat, hat sie zerrissen. In Bonn bindet sie ihr Leben wieder an einen Pflock - hat sie nicht von "biografischen Beobachtungen" gesprochen?

Manchmal ist es Absicht

Sachses Gedichte entstehen aus unterschiedlichen Gründen. "Manchmal ist es Absicht", sagt sie, "aber nie zu konstruiert". Und falls doch "dauern die dann länger." Dann sucht sie Wörter, macht Notizen, sucht immer wieder einen Ausweg. "Später wird was draus." So wie was aus der Begegnung mit einer Cellistin wird, die sie in einem Konzert erlebt, das sie sehr berührt hat:

die cellistin - schwirrt alles vibriert summt helle haut ihr ton nackt und dünn ihr gepuderter flügel ist schwebe alles ist flüstern fassbar nicht der halt in schattengängen streut licht streut dämmriges licht nicht löschen

Keine Angst übrigens, dass es bei Ingritt Sachse (fast immer) ohne Punkt und Komma zugeht. Wie verschachtelt die Sätze, die Worte sind, wie sprunghaft manchmal die Über- und Weiterleitung: schon in der dritten Zeile haben uns die Worte wieder in der Spur. Zurück zur Psychotherapeutin und wie offensichtlich auch Protokolle der Sessel-Gespräche zu Buche schlagen können, denn ihre Berichte, sagen Kollegen, lesen sich wie Geschichten. Und, wie gesagt: Geschichten werden bei Ingritt Sachse "immer eher ein Gedicht".

und war noch immer des goldes nicht satt der prinz der gemahl und sie des bleibens nicht sicher. dann kurzer hand warf sie den prinz an die wand. kein frosch der sich fand (verwandlung ihm anzubieten) und bleibt ein geworfener prinz an der wand

Lässt man sich mit Ingritt Sachses Gedichte ein, und das sollte man allemal tun, dann hört man das lachen der wellen, die gewaltige stille der tiefe und manchmal das muschelhorn mit weichem gesang.

Besprechung in PPFI, Februar 2011:

"in schattengängen streut licht", von Eva Seving, Bonn.

Eine poetische Suche nach Wegen zum Ich

73 Gedichte enthält das soeben im Athena Verlag erschienene feine Bändchen - eine Erstver-öffentlichung der in Bonn lebenden Lyrikerin Ingritt Sachse. Die assoziativ verdichteten Sprachfragmente treiben ein vieldeutiges Spiel mit Wahrnehmungsbildern und Erinnerungs-spuren, in dem Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen greift meine kinderhand/ in einen grund aus/ liedern und geschichten. In einem Wirbel plötzlich auftauchender Bildfetzen erscheinen Traumgestalten - rosinante/ feuerfee/ salamanderfrau -, die Fragen und Ängste auslösen, manchmal in Abgründe zu führen drohen. Faszinierend und verstörend zugleich, sich darauf einzulassen: klammert dein blick sucht/ vertrautes/ geheimnis sucht/ schwarze seide und/ fürchtet zugleich auf meiner haut die/ flackernden flecken/brennen verbrennen (dich). Doch das träumende Kind kommt in feuerfesten schuhn. Um die Schwierigkeit, Vergangenheitsspuren ruinen auf dem Weg zum Ich zu verorten, kreist der eindrucksvolle Zyklus (kein) leben wie am schnürchen: ferner/ rückt näher/ extrahiert die momente/ stapeln sich stapeln/ bauen auf sich sie/ stürzen und wieder/ erfinde ich/ wege und / mich.

Gegenüber der verzauberten Atmosphäre der Fantasie- und Traumwelten evoziert die Dichterin in diesen Gedichten eine nachdenkliche Stimmung, erfüllt von Skepsis, Ungewiss-heit bis zur Verzweiflung. Im Kontrast dazu die sinnlich-prallen, fast alltagslyrischen und lebenszugewandten Texte des Zyklus ohne zweifel heute, die bekenntnishaft verkünden auf meinem teppich bleiben will ich. Den Abschluss bildet eine Sammlung monolithisch anmutender Verse, die mit Impressionen zu Natur, Kunst und Mythen einen spannungsvollen Bogen zu den flirrenden Traumwelten des Anfangs spannen und das Bändchen, hinblickend auf Botticellis "Geburt der Venus" harmonisch und erwartungsvoll ausklingen lassen: und schweigen zwischen/ den lippen kieselschaum/ ihr tastender fuß/ schlamm noch im haar. Ingritt Sachse arbeitet als Psychotherapeutin in Bonn. Der Band ist erschienen in der Reihe edition exemplum im Athena Verlag.